Flucht nach oben
Klimaerwärmung
Flucht nach oben
In den Alpen steigen die Temperaturen doppelt so stark wie im globalen Durchschnitt. Was die Klimaerwärmung mit Tieren und Pflanzen macht, will ein Forschungsteam um den Forstwissenschaftler Sebastian Seibold herausfinden. Eine Bergtour im Nationalpark Berchtesgaden.
Süddeutsche Zeitung, 30.08.2021
Gämsen erlegen wollen die beiden nicht, Tiere aufspüren schon. Sebastian Seibold ist Co-Leiter eines Forschungsteams, das seit dem Frühjahr im einzigen deutschen Hochgebirgs-Nationalpark 215 Forschungsflächen einrichtet, von den Tälern bis hinauf zu den Gipfeln. Das Ziel: herauszufinden, wo welche Arten vorkommen, und wie sich die Klimaerwärmung auf Tiere, Pflanzen und Pilze auswirkt. Und was sie in dieser Welt schon heute aus dem Gleichgewicht bringt.
Nach wenigen Minuten ist die erste Station erreicht. An einem Hang im Wald taucht eine Konstruktion auf, die aussieht wie ein Zelt aus Fliegengittern. Es ist eine Malaise-Falle, in der fliegende Insekten gefangen werden. Etwas oberhalb hängt eine Wildtierkamera an einem Baum, daneben ragt ein pilzähnliches Gerät aus dem Boden. Ein Datalogger fürs Mikroklima, erklärt Seibold. Der messe Luft- und Bodentemperatur sowie die Bodenfeuchte. Was hier noch fehlt, holt Seibold aus einem Schutzkoffer: einen Audiorekorder. „Der nimmt die Ultraschall-Echorufe der Fledermäuse auf“, sagt er, während er das Gerät programmiert. Erst jetzt, wenn am Berg die Nächte wärmer würden, ergebe es Sinn, Fledermausrekorder aufzuhängen.
Eigentlich finde der Großteil seiner Arbeit am Computer statt, sagt Seibold. Wenn aber viel im Feld zu tun sei, gehe er mit raus. Seibold, schlanke Statur, Dreitagebart, Patagonia-Mütze auf dem Kopf, ist 35 Jahre alt. Er sei auch in seiner Freizeit gern am Berg, sagt er. Im Sommer mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern, im Winter auf Tourenski. Er stammt aus Freising bei München, hat in der kanadischen Taiga und subtropischen Wäldern der USA geforscht. 2019 publizierte er eine aufsehenerregende Studie in Nature, wonach die Zahl der Gliederfüßer-Arten, also unter anderem Insekten und Spinnentiere, in drei deutschen Regionen um mehr als ein Drittel zurückgegangen ist – in nur zehn Jahren.